Freising/Oświęcim. Am 27. Januar jährt sich der Auschwitz-Gedenktag, der Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers durch Truppen der Sowjetunion im Jahr 1945, zum 70. Mal. Insgesamt wurden allein in diesem Lager etwa 1,5 Millionen Menschen umgebracht – vor allem Juden. Renovabis fördert hier seit 1998 das Zentrum für Dialog und Gebet. Es lädt zu Besinnung, Begegnung, Lernen und Gebet ein. Das Zentrum soll helfen, die Opfer zu ehren und eine Welt des gegenseitigen Respekts, der Versöhnung und des Friedens zu gestalten. Pfarrer Dr. Manfred Deselaers, Seelsorger der Deutschen Bischofskonferenz am Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim (Auschwitz), erklärt im Interview, wie sich die Erinnerungskultur verändert und dass dieser Ort mittlerweile zu einem internationalen Lernort für den Frieden geworden ist.
70 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers ist die Zahl der ehemaligen Häftlinge nicht mehr so groß: Wie verändert sich die Erinnerungskultur an dieser Stätte des Grauens ohne die persönlichen Begegnungen mit den Überlebenden?
Deselaers: Zunächst muss ich sagen, dass es noch viele solcher Begegnungen gibt. Zu den Gedenkfeiern am 27. Januar 2015 werden rund 300 ehemalige Auschwitz-Häftlinge aus der ganzen Welt erwartet. Noch gelingt es uns, dass fast jede Gruppe, die hier einen mehrtägigen Studienaufenthalt verbringt, mit einem ehemaligen Häftling sprechen kann. Viel wichtiger als der sachliche „Zeugenbericht“ ist bei diesen Begegnungen die menschliche Dimension, oft in großer Betroffenheit, aber auch fast immer irgendwie herzlich, beseelt vom Wunsch, gut miteinander leben zu können. Natürlich wird das in Zukunft immer mehr fehlen. Aber die Betroffenheit durch die menschliche Begegnung setzt sich in den nächsten Generationen fort. Wenn wir uns als Deutsche, Polen, Israelis oder Russen hier begegnen, ist ja die Vergangenheit irgendwie dabei – und damit sind es auch die Wunden, die in den Familien und Völkern fortwirken.
Wie nehmen Sie das Interesse an diesem besonderen Gedenkort wahr: Hat es sich während der letzten Jahre verändert?
Deselaers: Die direkte biografische Betroffenheit nimmt ab. Was der Urgroßvater gemacht und erlebt hat, prägt einen Jugendlichen normalerweise heute wenig. Aber Oświęcim-Auschwitz ist zum internationalen Lernort für den Frieden geworden, in dem auch die heutigen Probleme des Friedens Thema sind. Und das ist gut so. Die Vergangenheit können wir nicht ändern. Verantwortlich sind wir für die Zukunft.
Im Zentrum für Dialog und Gebet werden Geschichte, religiöse Haltungen und Grundsätze betrachtet: Was ist Ihr Beitrag für ein lebendiges Miteinander aller Menschen, die sich auf Auschwitz einlassen?
Deselaers: Das Erste ist immer, die Geschichte ernst zu nehmen und genauer kennenzulernen, was passiert ist. Das allein ist schon nicht einfach, aber es ist grundlegende Voraussetzung, um uns und die zu uns gehörenden Wunden gegenseitig zu verstehen. Nur mit der historischen Wahrheit ist Dialog möglich. Und vielleicht nur mit dem Glauben an Gott, der uns liebt, ist eine Geduld möglich, die die Hoffnung nicht verliert. Deshalb helfen wir beim Organisieren der Besichtigungen, der Zeitzeugenbegegnungen, der Begegnungen verschiedener Nationen und Glaubensrichtungen, dem Gebet. Unsere Hilfe ist vor allem begleitend: Wir vermitteln bei Kontakten, antworten auf Fragen, wenn sie gestellt werden und versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem sich alle Menschen wohl und geachtet fühlen. Unser christliches „Glaubenszeugnis“ ist vor allem die Geduld der Liebe, die nicht die Hoffnung aufgibt, dass das letzte Wort über Auschwitz nicht die Macht des Bösen, sondern die Macht des Guten hat. In diesem Sinne hoffe ich, dass Auschwitz zu einem Besinnungsort, Gebetsort und zu einer Schule des Friedens für ganz Europa und dar-über hinaus wird. In den letzten Jahren sind hier viele Friedensinitiativen entstanden. Auf den Gedenktafeln des Mahnmals in Birkenau steht geschrieben: Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit.
Wer aus Verzweiflung schreit, der schreit um Hilfe, weil er sich verlassen und in Todesgefahr weiß. Nie wieder soll, wer in Verzweiflung um Hilfe schreit, alleine gelassen bleiben. Das ist die Mahnung. Deshalb hoffe ich, dass wir auch sagen können: Dieser Ort sei allzeit eine Schule der Solidarität und Hoffnung für die Menschheit.